Marion Gräfin Dönhoff 1972. © picture-alliance/ dpa Foto: Lothar Heidtmann

Marion Gräfin Dönhoff - Mit Mut Meinung bilden

Stand: 01.02.2021 17:10 Uhr

Marion Gräfin Dönhoff engagierte sich aktiv gegen das NS-Regime und galt als einflussreichste deutsche Publizistin der Nachkriegszeit. Bei der "Zeit" stellte die Wahl-Hamburgerin die Weichen.

von Stefanie Grossmann

Das Leben von Marion Gräfin Dönhoff war geprägt von Verlust, Widerstand und Ausbruch. Sie verlor ihre Heimat in Ostpreußen, geliebte Familienmitglieder und Freunde. Sie engagierte sich aktiv im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und sie brach aus Bestehendem aus, indem sie in typisch männliche Domänen eindrang. Gleichzeitig blieb sie tief verwurzelt in ihrer Schicht, ihrer Herkunft und ihrem Geschlecht. Diese Ambivalenz begann bereits in der Kindheit und zog sich durch das gesamte Leben der einst einflussreichsten Journalistin Deutschlands.

Marion Gräfin Dönhoff kommt am 2. Dezember 1909 als letztes von sieben Kindern auf dem Familiensitz Schloss Friedrichstein in der Nähe von Königsberg auf die Welt. Obwohl sie die Jüngste ist, wächst sie nicht als Nesthäkchen auf. Im Gegenteil: Das Verhältnis zu ihren Eltern ist distanziert. Zu ihrer Mutter, Ria Gräfin Dönhoff, hat sie ein eher kühles Verhältnis. Das mag auch daran liegen, dass diese beherrscht ist vom "comme-il-faut", einem standesgemäß feudalen Verhalten. Ihr Vater, der Diplomat und Politiker August Graf Dönhoff, stirbt, als Marion Dönhoff neun Jahre alt ist. Ihre ersten Eindrücke vom Familienoberhaupt revidiert sie erst sehr viel später. Anfangs versucht sie, ihm meist aus dem Weg zu gehen, weil er wegen seiner schlechten Augen immer ein Kind zum Vorlesen sucht. Da die größeren Geschwister sich oft geschickt entziehen, muss die kleine Marion dem Vater aus Tagezeitungen wie der "Times", dem "Figaro" und dem "Frankfurter" vorlesen.

Vom einsamen Kind zum selbstbewussten Mädchen

Friedrichstein, das Schloss der Dönhoffs in Ostpreussen © NDR/Marion Dönhoff Stiftung
Die Aufnahme aus dem Jahr 1927 zeigt den Familiensitz der Dönhoffs - Schloss Friedrichstein.

Marion Gräfin Dönhoff wächst eng mit ihrer behinderten Schwester Maria auf. Von den großen Geschwistern wird sie oft gerügt, insgesamt erfährt sie nur wenig Anerkennung innerhalb der Familie. Sie fühlt sich als Außenseiterin. Obwohl Marion schon als Kind sehr preußisch und diszipliniert ist und Verstand von Gefühl trennt, hat sie auch eine zweite Seite: Sie ist wild und unbändig. "Und um zu überleben, mausert sich das vergessene Mädchen zum eigenwilligen Wildfang", so formuliert es die Autorin Alice Schwarzer in ihrer Biografie "Marion Dönhoff. Ein widerständiges Leben." Obwohl sie eine Komtess ist, verbringt sie ihre Zeit viel lieber in Pferdeställen und der freien Natur, klettert auf Bäume und lernt vom Kutscher das Pfeifen durch die Finger.

Aus dieser von langer, stummer Einsamkeit geprägten frühen Kindheit wird sie eines Tages abrupt befreit. Ihre Retter sind Cousin Heini von Lehndorff und seine Schwester Sissi, die auf einem benachbarten Gut leben. Die drei Kinder bekommen geregelten Unterricht und verbringen ansonsten die meiste Zeit in der masurischen Natur. Marion fühlt sich befreit und gewinnt an Selbstbewusstsein. Auch ihre Situation in der Familie bessert sich: Ihre älteren Schwestern Christa und Yvonne haben geheiratet, Maria kommt in die kirchliche Anstalt Bethel, der älteste Bruder Heinrich zieht in den Krieg. Mit den anderen beiden Brüdern Christoph und Dieter verbindet sie von nun an eine innige Freundschaft: "In diesen glücklichen Jahren mit Brüdern und Schwestern, Cousin und Cousine formt sich ihr Bild von der Liebe", schreibt Schwarzer in ihrer Biografie. Diesem Traum von der Geschwisterliebe habe sie ein Leben lang nachgehangen.

Über die Haushaltsschule zur Doktorarbeit

Die Spannungen und Gegensätze in Marion Gräfin Dönhoffs ersten Jahren bestimmen auch ihren weiteren Lebensweg. Obwohl ihre Mutter dagegen ist, macht sie Abitur. Sie schafft es sogar bis auf ein Jungen-Gymnasium in Potsdam, wo sie die einzige Schülerin unter 18 Jungen ist. 1928 legt sie ein brillantes Abitur ab. Am liebsten möchte Marion Gräfin Dönhoff gleich studieren, doch die Mutter verlangt vor dem Studium ein Jahr Haushaltsschule in der Schweiz. Sie hält das eine Jahr durch, reist anschließend mit einer Freundin in die USA und danach zu Bruder Christoph nach Südafrika.

Dann beginnt sie in Frankfurt Volkswirtschaft zu studieren. Wegen Hilters Machtergreifung und dem Ausschluss jüdischer und kommunistischer Professoren und Kommilitonen wechselt sie an die Universität Basel. Dort promoviert sie über das Zustandekommen des gräflichen Besitzes Schloss Friedrichstein, dem kulturgeschichtlich bedeutendsten Schloss Ostpreußens. Mithilfe dieser Arbeit kann sie geistig von ihrer Heimat Besitz ergreifen, bevor diese verloren geht. Auch ihren Vater sieht sie in einem neuen Licht. In ihrer Erinnerung behält sie einen klugen Politiker und weit gereisten, interessierten Menschen, der eher unkonventionell war. 1935 beendet Marion Gräfin Dönhoff ihre Promotion.

Verantwortung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg

In den folgenden Jahren ahnt sie schon früh die Gefahr eines Krieges. Als ihre Brüder 1939 in den Kampf ziehen, übernimmt sie die Verwaltung von Friedrichstein. Marion Gräfin Dönhoff trägt damit nicht nur die Verantwortung für das Familiengut, sondern auch für die beiden Söhne ihrer früh verstorbenen Schwester Christa. Ihr Schmerz sitzt tief, als beide später an der Front fallen. Mit den zunehmenden Hetzreden führender Nationalsozialisten manifestiert sich bei Marion Gräfin Dönhoff der Wille zum Widerstand. Sie übernimmt die Rolle einer Informantin innerhalb ihres Freundeskreises von Gleichgesinnten - der zivilen Gruppe um die Bewegung des 20. Juli 1944. Dank ihrer guten Verbindungen kann sie wichtige Botschaften zwischen Ostpreußen und Berlin austauschen.

Nach dem gescheiterten Anschlag auf Hitler werden die meisten Mitglieder hingerichtet. Dank ihrer Verschlossenheit und eines glücklichen Zufalls überlebt Dönhoff. Sie beschreibt ihren Verlust der Freunde in ihrem Buch "Erinnerungen an ihre Freunde vom 20. Juli - Um der Ehre willen", das 1994 erscheint. Es endet mit dem Satz: "Nichts konnte schlimmer sein, als alle Freunde zu verlieren und allein übrig zu bleiben."

Flucht vor der Roten Armee aus Ostpreußen

Nach dem Verlust der Freunde folgt Anfang 1945 der Verlust der Heimat. Im Januar 1945 flüchtet Marion Gräfin Dönhoff vor der russischen Armee nach Westen. Auf ihrem Pferd Alarich legt sie eine 1.200 Kilometer lange Strecke zurück bis nach Westfalen. Verbitterung über die Vergangenheit ist ihr fremd, zum Verlust der familiären Güter sagt sie später weise: "Vielleicht ist das der höchste Grad der Liebe: zu lieben, ohne zu besitzen."

Frei sein als freie Publizistin bei der "Zeit"

Marion Gräfin Dönhoff als Leiterin des Politikressorts bei der ZEIT, 1960er Jahre. © NDR/Marion Dönhoff Stiftung
Marion Gräfin Dönhoff engagiert sich für die Aussöhnung mit Osteuropa und wird dafür ausgezeichnet.

Ein Memorandum über ihre getöteten Freunde des 20. Juli bringt sie 1946 zur Wochenzeitung "Die Zeit" nach Hamburg. Sie dringt in eine typische Männerdomäne ein und arbeitet dort zeitlebens ohne Vertrag, weil sie "frei" sein will - ihr Anfangsgehalt beträgt 600 Mark. Sie profitiert von ihren Sprachkenntnissen, Auslandsaufenthalten und ihren Beziehungen. Charakteristisch ist ihre Distanz zur Redaktion - und umgekehrt. Obwohl sie ihren Mitarbeitern anbietet, sie Marion zu nennen, bleibt sie stets "die Gräfin". Sie übernimmt das Politikressort, was für sie aber nicht bedeutet, nur darüber zu schreiben, sondern sich auch konkret einzumischen.

Dönhoff wird zu einer scharfen Kritikerin Adenauers und setzt sich konsequent für eine kompromissbereite Ostpolitik ein. Trotz des Verlustes der eigenen Heimat ist ihr die Aussöhnung mit Polen wichtig. Die "Zeit" trägt dazu bei, dass Willy Brandt 1969 Kanzler wird. Nicht nur politisch, auch menschlich steht der SPD-Politiker Marion Gräfin Dönhoff am nächsten. 1971 erhält Dönhoff für ihr Engagement für die Aussöhnung mit Osteuropa den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

 

Marion Gräfin Dönhoff wird Herausgeberin der "Zeit"

Chefredakteur Theo Sommer, Mitverlegerin Hilde von Lang, Mitbegründer Gerd Bucerius, Mitherausgeberin Marion Gräfin Dönhoff und Mitherausgeber Helmut Schmidt auf der Feier zum 40-jährigen Bestehen der "Zeit" am 21. Februar 1986 in Hamburg. © dpa Foto: Chris Pohlert
Theo Sommer, Hilde von Lang, Gerd Bucerius, Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt beim 40-jährigen Geburtstag der "Zeit" 1986.

1955 wird sie Politikchefin. Die "Zeit" wächst stetig in Umfang und Auflage und findet weltweit Beachtung. Marion Gräfin Dönhoff pflegt immer Kontakt zu jüngeren Menschen. Sie setzt auch bei der "Zeit" auf Jugend - männliche -, indem sie Theo Sommer und Haug von Kuenheim dazuholt. Beide verkörpern ihr Idealbild eines Mannes: groß, schlank, blond und blauäugig. Theo Sommer wird in den kommenden 40 Jahren ein enger Vertrauter. Sie steigt in der Hierarchie der "Zeit" weiter auf und wird am 1. Juli 1968 Chefredakteurin. Die Gräfin fühlt sich wohl in ihrer Männerwelt - ihr Verhältnis zu Frauen bleibt meist distanziert. Auf die Frage von Mitarbeiterinnen der Zeitschrift "Emma", was wäre, wenn sie 1970 zwanzig gewesen wäre, antwortet Dönhoff: "Dann wäre ich wohl bei der APO gewesen." Sie konnte sich nicht vorstellen, in einer Gruppe von Frauen für deren Rechte zu kämpfen.

1972 tritt sie als Chefredakteurin zurück und wird kurz darauf Herausgeberin der Wochenzeitung. Sie zieht sich mehr und mehr aus dem Tagesgeschäft zurück, sitzt aber trotzdem fast jeden Tag an ihrem Schreibtisch im sechsten Stock des Hamburger Pressehauses, wenn sie nicht auf Reisen im Ausland ist.

Ehrenbürgerin Hamburgs seit 1999

Marion Gräfin Dönhoff (1909 -2002)sitzt am 23.11.1999 in ihrem Büro in Hamburg. Die große alte Dame des politischen Journalismushat als Kommentatorin, Chefredakteurin und Herausgeberin ab 1946 maßgeblich das liberale Profil der Wochenzeitung Zeit mitgeprägt. © dpa Fotoreport Foto: Stefan Hesse
Marion Gräfin Dönhoff - hier 1999 in ihrem Büro in Hamburg - arbeitet bis ins hohe Alter.

Nach ihren Rückzug aus dem aktiven Redaktionsleben hat sie Zeit für andere Tätigkeiten: Sie initiiert ein Hamburger Wohnprojekt für Strafentlassene und gründet eine Stiftung, die Intellektuellen aus Osteuropa Aufenthalte für Studien und Recherchen finanziert. 1999 ernennt ihre Wahl-Heimatstadt Hamburg die Gräfin - als zweite Frau nach Ida Ehre - zur Ehrenbürgerin.

Marion Gräfin Dönhoff stirbt am 11. März 2002 im Alter von 92 Jahren auf Schloss Crottorf in Rheinland-Pfalz, dem Wohnsitz ihres Neffen.

Weitere Informationen
Lizenträger Lovis Lorenz (l) nimmt am 15. Februar 1946 in Hamburg vom britischen Militärgouverneur von Hamburg (r) die Lizenz-Urkunde für die Wochenzeitung "Die Zeit" entgegen. © picture-alliance / dpa Foto: dpa gns

1946 beginnt die neue "Zeit"

Deutschland liegt in Trümmern, als 1946 in Hamburg eine neue Zeitung startet. Ihr Ziel: stets "ungeschminkt die Wahrheit sagen". mehr

Gerd Bucerius am 23. August 1985 mit einer einer Ausgabe der Zeitung "Die Zeit". © picture-alliance / Sven Simon Foto: Sven Simon

Gerd Bucerius: Der Herr über die "Zeit"

Der streitbare Politiker und Verleger hat die Nachkriegszeit geprägt. Als sein Vermächtnis gilt die "Zeit"-Stiftung. mehr

Dieses Thema im Programm:

Doku & Reportage | 17.02.2021 | 21:00 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Porträt

Mehr Geschichte

Für fünf Tage, bis zum 30. Dezember 1974, hatte die Hamburger Baubehörde zwei der drei neuen Elbtunnelröhren zur Besichtigung frei gegeben. © picture-alliance / dpa Foto: Lothar Heidtmann

Vor 50 Jahren: Tausende Hamburger besichtigen Neuen Elbtunnel

Vom 26. bis 30. Dezember 1974 feiern 600.000 Hamburger ein Tunnelfest unter der Elbe. Die Bauarbeiten hatten 1968 begonnen. mehr

Norddeutsche Geschichte